Vor ziemlich genau 40 Jahren, im Oktober 1976,
unternahm ich als tatendurstiger junger Journalist von 25 Jahren
und braver Sohn eine aufwühlende Zeitreise zusammen mit meinen
Eltern Rosa und Franz Tauber in ihre alte Heimat, in den Böhmerwald.
Anlass war die 30-jährige Wiederkehr der Tage, an denen meine Mutter
mit meiner gerade ein Jahr alten Schwester Kristina und mit ihrer
Familie ihren Heimatort Kleinziegenruck (heute: Malý Kozí Hrbet),
ein winziges Dorf unweit von Schüttenhofen, in einem Viehwaggon per
Güterzug verlassen musste: Die Tschechen schoben die
deutschstämmigen Bewohner der grenznahen Siedlungen in Böhmen
rücksichtslos über die Grenze zur amerikanischen Zone Deutschlands
ab. Angehörige der eigenen Bevölkerung übernahmen Haus und Hof, Vieh
und Erntevorräte. Meine Mutter und ihre restliche Familie – der
Vater im Rentenalter, die Mutter, eine Schwester (die Brüder
befanden sich noch in russischer Kriegsgefangenschaft) – durften
gerade mal eine Holzkisten mit einem Zentner Hausrat, etwas
Bettwäsche und den Kinderwagen mitnehmen. Das war wie gesagt 1946,
ein Jahr nach dem Ende des zweiten Weltkrieges. Ein traumatisches
Erlebnis, das das Gefühlsleben meiner Mutter, heute fast 95 Jahre
alt, - mein Vater starb 1981 mit 62 Jahren – bis heute prägte und
tagtäglich umtreibt.
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Franz und Rosa 1976 mit nostalgischem Blick am alten
eisernen Flurkreuz,
auf der Hälfte der Wegstrecke zwischen den beiden Dörfern. Einst
Treffpunkt des jungen Franz Tauber aus Großziegenruck und seiner Rosa Prinz
aus Kleinziegenruck. Fotos: Kurt Tauber |
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Der Fall des Eisernen Vorhangs war 1976, immerhin
30 Jahre nach der Vertreibung, noch nicht abzusehen, eine
touristische Reise in die alte Heimat in der damaligen
Tschechoslowakei als Heimatvertriebener reichlich aufregend. Und
ich, ein 1951 im Westen geborener Journalist! Irgendwann bekamen wir
nach mehrwöchiger Wartezeit über ein Amberger Reisebüro unsere Visa
in die Reisepässe und der Ausflug in die Vergangenheit konnte
starten.
Meine Eltern führten mich zu den Stätten ihrer
Kindheit (mein Vater stammte aus dem Nachbardorf Großziegenruck,
heute Velky Kozí Hrbet), zeigten mir, wo sie
sich heimlich zum Stelldichein trafen, suchten und fanden die
Marterl und Kleindenkmäler, die im Wald und auf der Flur verteilt
waren. Wir entdeckten einen riesigen, grob behauenen Feldstein in
einer Mauer mitten im Wald (ehemals ein Acker), auf dem mein
Großvater mütterlicherseits in Großbuchstraben seinen Namen
eingemeißelt hatte: „A. PRINZ“.
Das A seht für Alois. Alois Prinz ist 1968 mit 97
Jahren als Analphabet und von allen Enkeln geliebter Bilderbuch-Opa
in seiner neuen Heimat Dorfprozelten am Main gestorben. Er besaß
zeitlebens keinen Fernseher, kein Radiogerät, hat nie in seinem
Leben telefoniert und hat, so weit ist das glaubwürdig überliefert,
nie ein Krankenhaus gesehen – jedenfalls nicht von innen.
Ich fotografierte also im Böhmerwald wie ein
Weltmeister, was meine Kameras und die Diafilme hergaben. Zum
Nachdenken kam ich erst später. Höhepunkt der zweitägigen
Abenteuerfahrt mit dem VW-Käfer-Cabrio über zerstörte Feldwege, über
Stock und Stein: Wir drei übernachteten im Elternhaus meiner Mutter,
das sich äußerlich kaum verändert hatte. Strom und fließend Wasser
gab es immer noch keines – Wasser kam aus dem eigenen Brunnen und
die Trafostation 500 Meter weiter war im Krieg abgebrannt und nicht
wieder aufgebaut worden. Im Garten stand etwas abseits ein
unbeleuchtetes Häuschen mit Herzchen in der Tür…
Beim Schein einer Petroleumlampe stiegen wir die
alte Holzstiege hinauf unters Dach ins „Gästezimmer“ und versuchten
zu schlafen. Eine Flasche Bier von der freundlichen Vermieterin
half, die nötige Bettschwere zu erlangen. Irgendwann verstummten die
wehmütigen Gespräche und wir schliefen ein.
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Küche, Wohnzimmer, gute Stube,
Schlafzimmer, Werkstatt - in den alten Böhmerwaldhäusern spielte
sich das Leben meist in der Wohnküche ab. Die Möblierung im
Elternhaus meiner Mutter war natürlich 1976 längst nicht mehr
original, auch der Kachelofen war über die Jahre verändert
worden. |
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Heute, 40 Jahre später, schreit dieses „Jubiläum“
nach einer neuen Exkursion in den Böhmerwald, nach Klein- und
Großziegenruck, Innergefild und Außergefild, auf den Zwoischen, nach
Unter- und nach Bergreichenstein - wie die Dörfer und Kleinstädte
damals noch hießen.
Ich hätte gerne, wenn auch ohne meine Eltern und
ohne meine Schwester Kristina (71), die sich mit so einer Fahrt
inzwischen auch schwer tun würde, alles noch einmal fotografiert:
die Marterl, die alten Hütten (sofern noch vorhanden), den Ausblick
auf die Kälberweide (sofern noch nicht von inzwischen 40 Jahre altem
Hochwald verdeckt), das Elternhaus meiner Mutter mit der in den
1990er Jahren renovierten Kapelle davor (das Haus soll man angeblich
nicht wieder erkennen, es sei zu Tode modernisiert worden, heißt
es). Den Namenszug „A. PRINZ“, der vermutlich inzwischen wieder
unter dem wuchernden Moos verschwunden ist. Das ehemalige Schulhaus
auf halber Strecke zwischen den beiden Dörfern…
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Es gibt übrigens weitere Aufnahmen, die in die
Ausstellung passen würden: 1996, also, wie ich jetzt bemerke, zufällig
20 Jahre nach der ersten Böhmerwald-Fahrt aufgenommen, als die
Kapelle in Kleinziegenruck mit Spendengeldern auch der
Heimatvertriebenen renoviert wurde und aus diesem Anlass ein Treffen
der früheren Ortsbewohner zur Kirchweih an Bartholomäus organisiert
wurde. Hier stehe ich vor dem Elternhaus meiner Mutter. |
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Heuer im Herbst hätte ich also gerne mit den Fotos eine Ausstellung im
Deutschen Kameramuseum in Plech gestaltet. Den Bildern von 1976 und
1996, wo
möglich, die Aufnahmen von 2016 gegenüber gestellt – identische
Motive aus nahezu identischen Perspektiven im Abstand von genau 40
beziehungsweise 20 Jahren
aufgenommen - 70 Jahre, nachdem meine Mutter ihre Heimat hat
verlassen müssen.
Aber es hat nicht sollen sein. Das mit den genau
40 Jahren klappt jedenfalls nicht mehr. Und ob ich die Reise in die
Vergangenheit 2017 nachholen kann? Der Gag wäre dann aber natürlich
hin. Pech gehabt! Der Geist war willig, aber die Myasthenia gravis
macht schwach.
Vielleicht klappt es in zehn Jahren zum
„50-jährigen Reisejubiläum“. Dann wäre ich 75 und vielleicht wenigstens noch fähig, eine Foto-Drohne zu steuern…
Nachtrag
Herbst 2019:
Meine Mutter Rosa Tauber ist 97-jährig verstorben
und ich habe die Reise in die Vergangenheit immer noch nicht
geschafft...
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Meine Mutter Rosa Tauber im Jahre 1996, 50
Jahre nach der Vertreibung, vor
ihrem Geburtshaus in Kleinziegenruck (Böhmerwald), das sie 1946 überstürzt
verlassen musste. |
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